Der Wandel der italienischen Familie – Von der Grossfamilie zur Individualisierung
In den letzten sechzig Jahren hat sich die Struktur der italienischen Familie tiefgreifend verändert. Bis in die 1960er-Jahre war vor allem die Grossfamilie typisch: mehrere Generationen lebten oft unter einem Dach, besonders in ländlichen Gebieten. Die Familie war das soziale Zentrum, und traditionelle Rollenverteilungen – der Mann als Ernährer, die Frau als Hausfrau – waren klar definiert.
In dieser Zeit existierten noch gesetzliche Regelungen, die aus heutiger Sicht als zutiefst diskriminierend gelten. Besonders auffällig sind zwei Beispiele:
- Das sogenannte „delitto d’onore“ (Ehrenmord) wurde bis 1981 strafrechtlich milder behandelt. Wenn ein Mann seine Frau oder Tochter im Affekt tötete, weil sie angeblich die „Ehre der Familie“ verletzt hatte (z. B. durch Ehebruch oder uneheliche Schwangerschaft), konnte er mit einer deutlich geringeren Strafe rechnen. Das Strafgesetzbuch sah in solchen Fällen „mildernde Umstände“ vor – ein Relikt aus einer patriarchalen Gesellschaft, das erst durch juristischen und gesellschaftlichen Druck aufgehoben wurde.
- Ebenfalls bis 1981 war der „matrimonio riparatore“ (Wiedergutmachungsheirat) möglich: Ein Mann, der eine Frau – oft eine Minderjährige – sexuell missbraucht hatte, konnte durch Heirat mit dem Opfer einer Strafverfolgung entgehen. Dieser Mechanismus stellte den gesellschaftlichen Ruf der Frau über ihr individuelles Recht auf Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Der Fall Franca Viola, die sich 1965 weigerte, ihren Vergewaltiger zu heiraten, gilt als Wendepunkt im öffentlichen Bewusstsein. Ihre Haltung war mutig und revolutionär für die damalige Zeit.
In den 1970er-Jahren begann dann ein umfassender gesellschaftlicher und rechtlicher Wandel. Die Frauenbewegung, wirtschaftliche Entwicklungen und Reformen wie das Scheidungsgesetz von 1970 und die Legalisierung der Abtreibung 1978 führten zu einer zunehmenden Emanzipation der Frau. Gleichzeitig sank die Geburtenrate stark, und die traditionelle Familie verkleinerte sich.
In den 1980er- und 1990er-Jahren nahmen Ein-Kind-Familien, Alleinerziehende und alternative Lebensgemeinschaften deutlich zu. Junge Erwachsene verliessen häufiger das Elternhaus, lebten allein oder in Partnerschaften ohne Trauschein. Die klassische „italienische Familie“ mit vielen Kindern und klaren Rollenbildern begann zu verschwinden – besonders in urbanen Regionen.
Heute ist Italien durch eine grosse Vielfalt von Familienformen geprägt: Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, kinderlose Paare und viele ältere Menschen, die allein leben. Auch die Migration hat neue kulturelle Einflüsse und Familienmodelle mitgebracht.
Trotz dieser tiefgreifenden Transformation bleibt die Familie ein zentraler Bezugspunkt im italienischen Alltag – sowohl emotional als auch wirtschaftlich. Viele junge Erwachsene leben länger im Elternhaus, nicht nur aus Tradition, sondern auch wegen hoher Lebenshaltungskosten und Arbeitsunsicherheit.
Der Wandel der italienischen Familie zeigt, wie stark rechtliche, soziale und kulturelle Veränderungen die intimsten Lebensbereiche betreffen – und wie sich eine Gesellschaft Schritt für Schritt von tief verwurzelten patriarchalen Strukturen befreien kann.